Mittwoch, 30. Juni 2021

Schwäbisch Hall und die Krise von 1769-71 / Schwäbisch Hall and the crisis of 1769/71

Wir haben uns überlegt für dieses Jahr uns dem Jahr 1771 zuzuwenden, nicht nur weil es 250 Jahre her ist und somit ein rundes Jubiläum, sondern weil es auch sehr spannend ist. International denkt man bei der Jahreszahl wahrscheinlich an die bedeutenden Ereignisse in den 13 Kolonien mit dem sogenannten Boston Massacre 1770 und andererseits dem Staatsstreich von oben durch Louis XV mit der Entmachtung der Parlamente und der Absetzung des Duc de Choiseul[1]. Das tief gespaltene Polen trieb der Polnischen Teilung entgegen.

For this year we have considered turning to the year 1771, not only because it was 250 years ago and thus a round anniversary, but because it is also very exciting. Internationally, one thinks of the significant events in the 13 colonies with the so-called Boston Massacre in 1770 and, on the other hand, the coup d'état from above by Louis XV with the disempowerment of parliaments and the deposition of the Duc de Choiseul [1]. The deeply divided Poland was drifting towards the division of Poland. 

Der Amtmann zu Pferde. Das Foto ist bei einem kleinen Ausflug mit unserem Grabenreiter entstanden.  1770/71 ließ der Haller Rat immer wieder Informationen über die Lage in den Ämtern einholen. - The "Amtmann" on horseback. The photo was made during a small trip with our "Grabenreiter". In 1770 and 1771 the council of Hall again and again researched for information out of the destricts of the territory.  (Foto: Albert Schwark, 2021)

Die Missernte und ihre Auswirkungen

Ähnlich wie andere Gebiete in Europa war Deutschland vor allem durch die Missernte von 1770/71 geprägt. Die meteologischen Ursachen auch anhand der Temperaturentwicklung im fränkischen [2] Nürnberg wurden bereits intensiv in der Publikation "Die Hungerjahre 1770-1772 in den böhmischen Ländern" beleuchtet[3]. In Schwäbisch Hall berichtet uns eine Chronik von 1769 das "Jahr war so naß" wie die vorigen, welche aber nun das "Wachsthum der Früchte" verhinderte. Die Preise stiegen an, so der Dinkel von 3 fl. 30 x 1768 auf 3 fl 40 x "u. drüber" im Jahr 1769[4]. Auch in der Folge ist für die Jahre 1770 und 1771 wiederholt von großer Nässe, dem Verfaulen nicht nur der "Früchte", des Korns, sondern auch vom Verderben der Kräuter und sogar erheblichen Einbußen beim Einbringen des Heus die Rede.

The crop failure and its effects 

Similar to other areas in Europe, Germany was mainly shaped by the poor harvest of 1770/71. The meteological causes, also based on the temperature development in the Franconian [2] Nuremberg, have already been examined intensively in the publication "The years of hunger 1770-1772 in the Bohemian countries" [3]. In Schwäbisch Hall a chronicle from 1769 tells us that "the year was as wet" as the previous one, but which now prevented the "growth of the fruits". The prices rose, for example the spelled from 3 fl. 30 x 1768 to 3 fl. 40 x "u. over" in 1769 [4]. Subsequently, for the years 1770 and 1771, there is repeated talk of great wetness, the rotting not only of the "fruits" and the grain, but also of the spoilage of the herbs and even considerable losses when the hay is brought in.

Zerstörte Waffen auf der Schützenscheibe des Stadtleutnants Friderich Imanuel Boelz - destroyed weapons on the target of the town's lieutenant Friderich Imanuel Boelz (Foto: Cecilia Hanselmann)


Die Reichsstadt Schwäbisch Hall musste sich während der 1760er zum einen von den finanziellen Belastungen des Siebenjährigen Krieges und zum anderen von den Auswirkungen einer Ruhrepedemie erholen[5]. Das Thema der spanischen Werbungen im Hällischen haben wir bereits thematisiert[6]. Schon im September 1770 musste sich der Haller Rat insbesondere der Versorgung der Armen zuwenden[7]. Verschiedene Gemeinden baten um den Erlass oder die Umwandlung bestimmter Abgaben oder darum, dass der Rat Saatgut aus dem Kornhaus zur Verfügung stellte[8]. Der Haller Rat ebenso wie der Schwäbische Kreis bemühten sich darum den Verbrauch des wenigen Korns zu verringern. Der Kreis verhängte eine "Fruchtsperre" gegen die Ausfuhr von Korn während der Magistrat der Reichsstadt die Branntweinbrennerei verbot[9]. Da bei einer Betstunde am 27. Juli 1770 nur "der gemeine Pöbel" zugegen war, während viele Haller in den Wirtshäusern weilten, hielt man dies für eine Ursache für das an dem Tag eingetretene schreckliche Unwetter, welches sogar das Pflaster aus den Gassen ausspülte und die Treppen vor den Häusern wegriss[10].

Auch wenn Anfang 1771 gehofft wurde, dass sich die Lage verbessern würde, erwies sich auch dieses Jahr wiederum als so verheerend, dass sogar "Brod aus dem schwärzesten Mehl mit Kleie vermischt" gebacken wurde. Es wurden auch "Stein Klee Saamen" und Stroh gemahlen. Doch wurde von der Obrigkeit erkannt, dass dieses Mehl zu Krankheiten führen konnte, weshalb sie das Mehl "wegnehmen" ließ. Unter der Bewachung durch 2 Soldaten wurde das Mehl am Hospital von einer Ratsdeputation ausgeteilt um "den Unfug zu steuern". Am 8. April wurde angeordnet, dass sowohl in der Stadt als auch auf dem Land "bey hoher Strafe" das Tanzen verboten wurde. Am Tag darauf wurde vom Rat verkündet, dass die Bäcker nur noch "Wecken" und Brot backen durften[11]. Im Laufe des Aprils spitzte sich die Lage immer stärker zu bis hin zu der Situation, dass arme Leute, die am Leib Brot unter ihrer Kleidung aus der Reichsstadt schmuggeln wollten, von den Torwachen angehalten wurden. Besonders argwöhnisch wurde von den Haller Regierenden der Zöllner von Bubenorbis[12] gesehen, der dem "Schleichhandel" also Schmuggel Vorschub leistete indem er Fuhren von Korn ohne Pässe durchgehen ließ[13]. Der Preis des Korns stieg während des Frühjahrs 1771 bis auf über 6 Gulden pro Scheffel. Im August sanken die Preise allerdings durch "das holländische [Korn] davon viel hiehergebracht worden ist". Am 8. August sank der Preis sogar auf unter 3 Gulden[14]. Als ein deutliches Zeichen der Entspannung wurde am 12. August vom Stadtschultheißen den Bäckern wieder erlaubt Brot an Fremde zu verkaufen[15].

During the 1760s, the imperial city of Schwäbisch Hall had to recover from the financial burdens of the Seven Years' War on the one hand, and from the effects of an eruption on the other hand [5]. We have already discussed the topic of Spanish recruitment in the territory of Hall [6]. As early as September 1770, the Hall council had to focus on caring for the poor [7]. Various municipalities asked for the remission or conversion of certain taxes or for the council to provide seeds from the granary [8]. The Hall council as well as the Swabian imperial circle tried to reduce the consumption of the little grain. The imperial circle imposed a "fruit barrier" against the export of grain while the city's magistrate banned the distillery [9]. Since only "the common mob" was present at a prayer hour on July 27, 1770, while many Hallers were staying in the inns, this was thought to be a cause of the terrible storm that occurred that day, which even washed the pavement from the streets and tore away the stairs in front of the houses [10].

Even if at the beginning of 1771 it was hoped that the situation would improve, this year again turned out to be so devastating that even "bread made from the blackest flour mixed with bran" was baked. Stone clover seeds and straw were also ground. But it was recognized by the authorities that this flour could lead to diseases, which is why they had the flour "removed". Under the guard of 2 soldiers, the flour was distributed at the hospital by a council deputation in order to "control the mischief". On April 8, it was ordered that dancing be banned "by heavy punishment" in both the city and the countryside. The next day the council announced that the bakers were only allowed to "wake up" and bake bread [11]. In the course of April the situation escalated to the point that poor people who wanted to smuggle bread from the imperial city under their clothes were stopped by the gate guards. The rulers of Hall viewed the customs officer of Bubenorbis [12] with particular suspicion, who encouraged the "surreptitious trade" by allowing grains to pass through without passports [13]. The price of the grain rose to over 6 florins per bushel during the spring of 1771. In August, however, prices fell due to "the Dutch [grain] of which much has been brought here". On August 8, the price even fell below 3 florins [14]. As a clear sign of relief on August 12th the imperial town's sheriff allowed the bakers to sell bread again to the foreigners[15].

Wohl eine allegorische Darstellung der drei Stände auf einer Haller Schützenscheibe von 1771: Bauer in typisch hällischer Tracht, Handwerker/Bürger von Hall (?), Patrizier/Ratsmitglied (?). Schützenscheibe des Friedrich Lorenz Haspel, 1771, Hällisch-Fränkisches Museum Schwäbisch Hall - That maybe is an allegorical reflection of the three states on a target from Hall from the year 1771: a peasant in a typical clothing of Hall, a craftsmen or citizen of Hall (?), a patrician or member of the council (?), target of Friedrich Lorenz Haspel, 1771, Hällisch-Fränkisches Museum Schwäbisch Hall (Foto: Kim Krawiec)


Missernten überall?

Während weite Teile Deutschland wie auch Hall unter der Krise litten, scheint es auch Profiteure gegeben zu haben. So berichtet uns Heinrich Sander im Jahr 1781: "Man konnte den kostbaren Bau der Kirche, und so manches andre in St. Blasien um so viel leichter ausführen, da die Vorsehung auf den unglücklichen Brand jene theuren Jahre folgen ließ, wo besonders die Brodfrucht, und das Getraide, wovon St. Blasien einen Überfluß hat, in sehr hohem Preis stand."[16] Thiébault berichtet auch davon, dass Preußen ebenfalls von der großen Knappheit profitiert habe, da man in 7 Städten große Getreidemagazine angelegt hatte. Daraus konnte für hohe Preise Korn vor allem nach Sachsen exportiert werden, "daß er [Friedrich II.] einem ganzen Volk, das kaum etwas anderes als Gras zu essen hatte, das Leben rettete". [17] 

Sehr zeitnah zu den Krisenjahren um 1771 erschienen einige Publikationen des Pfarrers Johann Friedrich Mayer (1719-1798), der sich praktisch und theoretisch der Reformierung der Landwirtschaft widmete. Noch vor den Missernten erschien Mayers "Lehre vom Gyps als vorzueglich guten Dung zu allen Erd-Gewaechsen auf Aeckern und Wiesen, Hopfen- und Weinbergen"[18]. Mayer machte seine Methoden unter anderem dafür verantwortlich, dass sein Amt Kupferzell, in dem er wirkte, nicht unter Missernten zu leiden hatte. [19] Die Missernten und Teuerungen von 1770/71 begünstigten kurzfristig den "Siegeszug der Kartoffel"[20].

Harvest failures everywhere?

While large parts of Germany and Hall suffered from the crisis, there also seem to have been profiteers. Heinrich Sander reports to us in 1781: "It was so much easier to carry out the precious building of the church, and so many other things in St. Blasien, since Providence allowed those dear years to follow the unfortunate fire, when especially the breadfruit, and the grain, of which St. Blasien has an abundance, was at a very high price. "[16] Thiébault also reports that Prussia also benefited from the great scarcity, since large grain stores were set up in 7 cities. From this, grain could be exported to Saxony at high prices, "so that he [Friedrich II] saved the life of an entire people who had little to eat but grass". [17]

A few publications by Pastor Johann Friedrich Mayer (1719-1798), who practically and theoretically devoted himself to reforming agriculture, appeared very close to the crisis years around 1771. Even before the bad harvests, Mayer's "doctrine of gypsies was published as a particularly good manure for all soil crops on fields and meadows, hops and vineyards" [18]. Mayer recommended his methods, among other things, for ensuring that his office in Kupferzell, in which he worked, did not suffer from bad harvests. [19] The bad harvests and price increases of 1770/71 favored the "triumphant advance of the potato" [20]. 

Avertissement:

Wir möchten euch darauf hinweisen, dass es schön wäre, wenn unsere lieben Leser das Freilandmuseum Wackershofen unterstützen würden, welches durch die Corona-Lage zahlreiche Veranstaltungen absagen oder gar das Museum geschlossen lassen musste/muss. Hier ein Link zur Homepage des Museums: https://www.wackershofen.de/

We want to inform our dear readers, that we would be happy if you would support the open-air-museum Wackershofen which had/has a lot of problems due to the current Corona-crisis because the museum had/has to close and cancel many events. Here is a link to the museum: https://www.wackershofen.de/

Fotos: Kim Krawiec, Cecilia Hanselmann, Albert Schwark

Text: André Hanselmann


1) dazu z.B.: Olivier Bernier: "Ludwig XV. - Eine Biographie" Benziger, Zürich, 1986, S. 484 f

2) Wenn auch administrativ damals zum Schwäbischen Kreis gehörig, liegt eigentlich auch die Gegend von Schwäbisch Hall in Franken. Man denke an Bezeichnungen wie "Hällisch-Fränkisches Museum".

3) Rudolf Brázdil, Hubert Valášek, Jürg Luterbacher, Jarmila Macková: "Die Hungerjahre 1770-1772 in den böhmischen Ländern - Verlauf, meteorologische Ursachen und Auswirkungen" in "Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 12, 2001, S. 45-46

4) Haller Chronik HV HS 81, S. 86 f

5) zur Ruhr: Schüler'sche Chronik, S.445/463, Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sig. HV HS/90

6) https://wackershofenannodomini.blogspot.com/2019/07/mobilitat-im-18-jh-teil-4-unter-fremden.html#more

7) "Acta die Frucht-Theurung von 1770-1773 betr[effend]", S. 1, Stadtarchiv Schwäbisch Hall, 4/3673

8) ebenda S. 5

9) ebenda S. 7-9

10) HV HS 81, S. 87 f 

11) ebenda S. 90

12) die Tür des Wirtshauses/Zollhauses von Bubenorbis:  

https://wackershofenannodomini.blogspot.com/2020/09/auf-den-spuren-der-rauber-on-traces-of_21.html

13) "Acta die Frucht-Theurung ... betreffend", S. 115-118

14) HV HS 81, o. S.

15) "Acta die Frucht-Theurung ... betreffend", S. 189

16) Heinrich Sander: "Aufenthalt zu St. Blasien" in Irmgard u. Ludger Syré (Hrsg.): "Eingebildete Bauern - gelehrte Mönche. Reisebeobachtungen im 18. Jahrhundert zwischen Schwarzwald und Bodensee" G.Braun, Leinfelden-Echterdingen, 2009, S. 202-203

17) Dieudonné Thiébault: "Friedrich der Große und sein Hof - Persönliche Erinnerungen an einen 20-jährigen Aufenthalt" Berlin Story, Berlin, 2005, S. 321-322

18) Johann Friedrich Mayer: "Lehre vom Gyps als vorzueglich guten Dung zu allen Erd-Gewaechsen auf Aeckern und Wiesen, Hopfen- und Weinbergen" Anspach, 1768

19) Johann Friedrich Mayer: "Lehrbuch für die Land- und Haußwirthe in der pragmatischen Geschichte der gesamten Land- und Haußwirthschafft des Hohenlohe Schillingsfürstischen Amtes Kupferzell" (1763) Faksimilierte Neuausgabe des 1773, Hohenloher Freilandmuseum, 2020 

20) Horst Möller: "Fürstenstaat und Bürgernation - Deutschland 1763-1815" Siedler, Berlin, 1998, S. 235

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