Mittwoch, 2. März 2022

Der Amtmann bei Wilhelm Meister - eine arme Figur? - The "Amtmann" in Wilhelm Meister - a poor figure? (Goethe)

Nachdem wir am Beispiel einer Erzählung von Karl May [1] einen doch eher fragwürdigen Charakter als Vertreter des Berufsstandes der Amtmänner erlebt haben, tritt uns in Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) "Wilhelm Meisters Lehrjahre" ein ganz anderer Amtmann gegenüber. Vorab sind zwei weitere wesentliche Aspekte zu nennen, welche beide Werke insbesondere im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Bildes von einem Amtmann unterscheiden. 

After we have experienced a rather questionable character as a representative of the bailiff's profession using the example of a story by Karl May [1], we are faced with a completely different bailiff in Johann Wolfgang von Goethe's (1749-1832) "Wilhelm Meister's Apprenticeship". First of all, two other essential aspects should be mentioned, which distinguish both works, especially with regard to the credibility of the picture of a "Amtmann" (bailiff).

Erstens ist Goethes Roman natürlich dem für uns interessanten historischen Zeitabschnitt, der Mitte beziehungsweise dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts deutlich näher [2]. Goethe schreibt in einem Brief an Karl Ludwig von Knebel bereits im Januar 1791 darüber, dass er an seinem "Wilhelm Meister" wiederum arbeite. 1795/96 ist der Roman schließlich erschienen.

First of all, Goethe's novel is of course much closer to the historical period of interest to us, the middle or third quarter of the 18th century [2]. In a letter to Karl Ludwig von Knebel in January 1791, Goethe wrote that he was working on his "Wilhelm Meister" again. The novel was finally published in 1795/96.

Zweitens hatte Goethe als enger Berater und Minister einen tiefen Einblick in das Innere des Staates von einem der größeren ernestinischen Herzogtümer. Seit 1776 hatte er den Posten eines Legationsrates inne. Durch seine Aufgaben im Wegebau, beim Bergbau und bei der Rekrutierung begegnete er nicht nur auch die einfachen Untertanen seines Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757-1828), sondern hatte auch direkt mit den entsprechenden Amtsträgern auf dem Lande wie Amtmännern zu tun. Von daher wird er gewusst haben, was er schrieb, als er die Rolle seines Amtmannes in "Wilhelm Meisters Lehrjahre" entwarf. Außerdem war er als Jurist schon von der Ausbildung (Studium 1765-1771) her mit den Funktionen von Amtmännern gewiss vertraut. Auf seinen Reisen in den frühen Weimarer Jahren, die er auch dazu nutzte beispielsweise den Bergbau im Harz [3] kennen zu lernen oder auf denen er Beziehungen in andere thüringische Staaten [4] knüpfte, dürfte er auch intensiv die Verwaltung in diesen Gegenden kennengelernt haben. 

Second, as a close advisor and minister, Goethe had a deep insight into the interior of the state of one of the larger Ernestine duchies. From 1776 he held the post of legation councilor. Through his duties in road construction, mining and recruiting, he not only met the simple subjects of his Duke Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757-1828), but also had to deal directly with the relevant officials in the country as bailiffs to do. Hence he must have known what he was writing when he was designing the role of his bailiff in "Wilhelm Meister's Apprenticeship". In addition, as a lawyer, he was certainly familiar with the functions of bailiffs from his training (studies 1765-1771). On his travels in the early Weimar years, which he also used, for example, to get to know mining in the Harz Mountains [3] or on which he established relationships with other Thuringian states [4], he should have also got to know the administration in these areas intensively .

Ich selbst in der (unvollständigen) Kleidung als Ratsherr in Schwäbisch Hall. Daneben eine Ratsbank aus dem 18.Jahrhundert. Das Bild wurde in einem der Räume des Hällisch-Fränkischen Museums aufgenommen. Die Amtmänner waren oftmals in Hall gleichzeitig Ratsherren und wohnten auch den Ratssitzungen bei, was aus den Ratsprotokollen im Stadtarchiv hervorgeht. - I myself in the (not complete) clothing as a councilor of Schwäbisch Hall. Besides you can see a bench of the magistrate of Hall of the 18th century. The photo was made in the rooms of the "Hällisch-Fränkische-Museum. The bailiffs often were at the same time councilors and shared in the council meetings, which is documented in the reports of the council in the town's archive. (photo: Cecilia Hanselmann)

Wie begegnet uns nun der Amtmann? Goethes Hauptfigur der besagte Wilhelm Meister interessierte sich für ein Mädchen, das mit einem Schauspieler durchgebrannt war. Die Eltern des Mädchens hatten die Behörden eingeschaltet [5] und die von einem Aktuarius angeführte Landmiliz überführte die Gefangenen sodann nachdem man sie von einem Stadtschreiber und dessen Eskorte übernommen hatte. Der Täter, also der Schauspieler musste in Ketten neben dem Fuhrwerk hergehen, auf welchem die Ent- oder Verführte saß[6]. Die für die folgende Szene bedeutsame Figur des Amtmannes residierte in einem Amtshaus [7]. Besonders schön finde ich hier die Passage "Der Amtmann, der von solchen außerordentlichen Fällen kein sonderlicher Liebhaber war, weil er meistentheils dabey einen und den andern Fehler machte, und für den besten Willen gewöhnlich von fürſtlicher Regierung mit einem derben Verweise belohnt wurde", aus der meines Erachtens ganz Goethes eigene Anschauung spricht.  Der Amtmann geriet nun in ziemliche Verlegenheit, weil die Entflohene nicht einmal ihren Namen angeben wollte, da diesen der Amtmann ja ausreichend kenne und der Amtmann sowieso wisse, dass sie so alt wie sein eigener Sohn sei. Der Amtmann machte in der Befragung des Mädchens keine Fortschritte indem sie einfach auf ihrer Aussage und der Hoffnung auf die Großmut des Fürsten beharrte. Wilhelm Meister bat nun den Amtmann es auf sich bewenden zu lassen. Daraufhin wurde das Mädchen abgeführt und auch der Schauspieler durch den Amtmann befragt, der dann allerdings anders als die Verführte alles abstritt. Schließlich erlaubte der Amtmann später Wilhelm Meister allein mit Melina, der Entflohenen, zu reden um etwa eine Lösung mit ihren Elten zu bewirken [8]. 


How does the bailiff meet us now? Goethe's main character, the aforementioned Wilhelm Meister, was interested in a girl who ran off with an actor. The girl's parents had turned on the authorities [5] and the land militia led by an actuary then convicted the prisoners after they had been taken over by a town clerk and his escort. The perpetrator, i.e. the actor, had to walk in chains next to the wagon on which the abducted or seduced woman was sitting [6]. The figure of the bailiff, which is significant for the following scene, resided in an office building [7]. I find the passage "The bailiff who was not a great lover of such extraordinary cases because he mostly made one or the other mistake and was usually rewarded with a crude reprimand for the best will by the dreadful government" particularly beautiful which, in my opinion, speaks entirely of Goethe's own view. The bailiff was now quite embarrassed because the escaped woman did not even want to give her name, since the bailiff knew it well enough and the bailiff knew that she was as old as his own son. The bailiff made no progress in questioning the girl by simply insisting on her testimony and the hope of the prince's generosity. Wilhelm Meister now asked the bailiff to let it go. The girl was then taken away and the actor questioned by the bailiff, who then, unlike the seduced, denied everything. Finally, the bailiff later allowed Wilhelm Meister to talk to Melina, the escaped woman, in order to find a solution with her parents [8].

Der Amtmann wird also bei Goethe als eine im Grunde genommen gutherzige Person beschrieben, der es fern steht grausame Entscheidungen zu treffen. Seine Handlungen wie die Aufnahme der Aussagen sind an ein enges Korsett von Formalien gebunden, weshalb ihn die emotionale Aussage Melinas überfordert. So heißt es da: "Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreyfach in Verlegenheit. Die gnädigsten Ausputzer ſummten ihm schon um den Kopf, und die geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls gänzlich zerrüttet." [9] Mir gefällt wie Goethe auch einwebt, dass der Amtmann als normale Person in seiner Gemeinde auch bekannt ist, worauf Goethe mit dem Verweis auf das Alter seines Sohnes hinweist. Also ist der Amtmann wenngleich Vertretung der Macht der Obrigkeit auch gewöhnliches Mitglied der Bevölkerung. 

The bailiff is described by Goethe as a basically kind-hearted person who is far from making cruel decisions. His actions, such as the recording of statements, are tied to a tight corset of formalities, which is why Melina's emotional statement overwhelms him. It says: "The old bailiff was embarrassed twice and three times over this. The most gracious cleaners were already humming around his head, and the girl's familiar speech had completely shattered the draft of the protocol." [9] I like how Goethe weaves into the fact that the bailiff is also known as a normal person in his community, which Goethe refers to by referring to the age of his son. So the bailiff is also an ordinary member of the population, even though he represents the power of the authorities.

Meines Erachtens ist Goethes Bild vom Amtmann sehr realistisch und auch wenn die Figur nicht gerade einen großen Raum im Roman einnimmt, doch auch für den heutigen Leser noch interessant. Ähnliche nahbare Amtmänner treten mir auch in meinen Recherchen in den Archiven gegenüber - Menschen aus Fleisch und Blut.

In my opinion, Goethe's picture of the bailiff is very realistic and even if the figure does not exactly occupy a large space in the novel, it is still interesting for today's reader. I also encounter similar, approachable officials in my research in the archives - people of flesh and blood.


Text: André Hanselmann

Foto: Cecilia Hanselmann

Avertissement:

Wir möchten euch darauf hinweisen, dass es dieses Jahr erneut Veranstaltungen mit dem Cercle d'histoire vivante im Freilandmuseum Wackershofen geben wird. Bitte schaut dort in den Veranstaltungskalender um euch zu informieren: https://www.wackershofen.de/

We would like to point out that this year there will again be events with the Cercle d'histoire vivante in the Freilandmuseum Wackershofen. Please check the events calendar there for more informationhttps://www.wackershofen.de/


Verweise / Notes:

1) https://wackershofenannodomini.blogspot.com/2022/01/der-bose-amtmann-von-wahlsdorf-evil.html

2) Unsere Veranstaltung in Wackershofen 2021 spielte ja beispielsweise im Jahr 1771 - For example, our event in Wackershofen 2021 took place in 1771: https://wackershofenannodomini.blogspot.com/2021/06/schwabisch-hall-und-die-krise-von-1769.html

3) 1777 besuchte er Ilsenburg auf seiner ersten Harzreise und lernte die dort vorhandene umfangreiche Industrie kennen. Dazu auch / In 1777 he visited Ilsenburg on his first trip to the Harz Mountains and got to know the extensive industry there. In addition : https://www.harzlife.de/info/goethe_harzreisen.html

4) In Rudolstadt traf Goethe am 7. Sept. 1788 auf Friedrich Schiller. Die Staaten Schwarzburg-Rudolstadt und Sachsen-Weimar hatten enge Beziehungen, die nicht immer ohne Rivalität verliefen. - On September 7, 1788, Goethe met Friedrich Schiller in Rudolstadt. The states of Schwarzburg-Rudolstadt and Saxe-Weimar had close ties that were not always without rivalries. Dazu: Horst Fleischer "Vom Leben in der Residenz - Rudolstadt 1646-1816" Gutenberg, Weimar, 1996, S. 232

5) Interessanterweise hat Mr. Bennet in dem etwa zeitgleich verfassten "Pride and Prejudice" von Jane Austen darauf verzichtet der mit Mr. Wickham durchgegangenen Tochter auf offiziellem Weg nachzustellen. - Interestingly, in Jane Austen's "Pride and Prejudice", written at about the same time, Mr. Bennet refrained from officially pursuing the daughter who had run away with Mr. Wickham.

6) Man kann sich die Szene wohl ähnlich wie bei Chodowieckis Stich für Basedows "Elementarwerk" mit dem Titel / One can probably imagine the scene similar to Chodowiecki's engraving for Basedow's "Elementarwerk" with the title : "Der gefangene Dissident in der Lehre von der Taufe." vorstellen. Siehe auch: https://commons.wikimedia.org/wiki/Elementarwerk,_Kupfersammlung?uselang=de#/media/File:Chodowiecki_Basedow_Tafel_73_c.jpg 

7) Wir dürfen uns das wohl so vorstellen wie das frühere Amtshaus des Amtmannes vom Amt Vellberg, heute Rathaus der Stadt Vellberg. Ein paar schöne Fotos des Gebäudes findet man auf Wikipedia. / We can probably imagine it like the former office building of the bailiff from the Vellberg office, today the town hall of the city of Vellberg. A few nice photos of the building can be found on Wikipedia.

8) Johann Wolfgang von Goethe: "Wilhelm Meisters Lehrjahre" 1. Band, J.F. Unger, Berlin, 1795, 13. Kapitel, S. 106-121

9) ebenda S. 115-116

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